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Demokratie nach Gutdünken

Die bürgerliche Mehrheit schlägt in jüngster Zeit einen staatspolitisch fragwürdigen Kurs ein: Immer häufiger biegt sie Plebiszite und demokratische Entscheide, die ihr nicht in den Kram passen, nach ihrem Willen zurecht – notfalls gegen etablierte Verfahrensregeln, Bundesverfassung und Volkswillen. Demokratie ja – aber nur von Fall zu Fall? Hier findet eine gefährliche Erosion demokratischer Gesinnung statt. Demokratie lebt nicht nur von einer Verfassung, die auf Mehrheitsprinzip, Grund- und Menschenrechte und fairen Verfahrensregeln gründet; Demokratie lebt auch davon, dass der Geist der Verfassung bestimmend und lenkend ist für die politischen Akteure. Demokratische Prinzipien müssen über Ideologie und Parteiprogrammatik stehen. Fehlt diese Grundhaltung, droht Demokratie zum toten Buchstaben zu werden.

Schlechte Verlierer

Dass es um diese Grundhaltung in der Schweiz nicht zum Besten bestellt ist, zeigt sich immer häufiger, zuletzt etwa nach dem Ja zur 13. AHV-Rente. Obwohl inzwischen viele Wochen vergangen sind, können sich die bürgerlichen Parteien mit ihrer Niederlage nicht abfinden, verharren im Kampfmodus, machen sich über den Volksentscheid lustig und torpedieren ihn mit abstrusen Finanzierungsvorschlägen. Dies gipfelte jüngst etwa darin, dass die NZZ hämisch anregte, eine Regelung einzuführen, die es erlaubte, freiwillig auf den Rentenzuschlag zu verzichten.

Bedenkliche Entwicklung

Man könnte diese Rhetorik nun als Schmerzbewältigung der Abstimmungsverlierer abtun. Doch damit unterschätzt man das Phänomen. Denn die Diskreditierung unliebsamer Plebiszite durch die bürgerliche Mehrheit hat mittlerweile System. Sie dient dazu, das Terrain vorzubereiten, um demokratische Verdikte später im Parlament angreifen zu können und die dazu nötigen staatspolitisch fragwürdigen Manöver und juristischen Winkelzüge zu rechtfertigen und ihnen den Anschein von Legalität zu geben.
Was damit gemeint ist, zeigen die folgenden ausgewählten sechs Entscheide von Stände und Nationalrat in jüngster Zeit:

  • Vor einem Jahr ermöglichte es das bürgerliche Parlament dem Bundesrat in einem beispiellosen Vorgang, den Kaufvertrag für F-35-Kampfjets zu unterschreiben, obwohl dagegen eine Volksinitiative hängig war. Damit wurde faktisch eine Abstimmung verhindert, ein Volksrecht entwertet und die Gegnerschaft kaltgestellt.
  • Auf Druck der bürgerlichen Mehrheit legte der Bundesrat im Januar einen Entwurf vor, mit dem die bestehenden kantonalen Mindestlöhne ausgehebelt werden sollen. Der Bundesrat selbst warnte davor und bezeichnete diese Absicht als verfassungswidrig, weil damit die kantonale Souveränität und das Legalitätsprinzip missachten werden.
  • Im März dieses Jahres brachte die bürgerliche Mehrheit die Umsetzung der 2022 gutgeheissenen Volksinitiative gegen die Tabakwerbung zum Scheitern, indem sie Bestimmungen durchsetzte, die hinter dem alten Gesetz zurückfielen. Selbst bürgerliche Medien sprachen von einem Verstoss gegen den Volkswillen.
  • Ebenfalls im März durchlöcherten die Bürgerlichen das Zweitwohnungsgesetz mit so weitreichenden Ausnahmen, dass der Bundesrat festhalten musste, dass hier die Verfassung gebrochen wird. Das Gesetz geht auf eine im Jahr 2012 gutgeheissene und von den Bürgerlichen bekämpfte Volksinitiative zurück.
  • Und schliesslich überwies der Ständerat in der letzten Session eine Motion, die alle Gemeinden zwingen will, die Höchstgeschwindigkeiten innerorts auf 50 Stundenkilometer zu belassen. Damit setzte er sich über zwei Grundpfeiler unseres politischen Systems hinweg: der Gemeindeautonomie und dem Föderalismus.

In der Summe zeigt das deutlich, was im bürgerlichen Lager Tatsache ist: ein tiefer Unwille, Niederlagen zu akzeptieren und Volksentscheide unserer Konkordanzdemokratie entsprechend gemeinsam mit dem politischen Gegner konstruktiv umzusetzen. Stattdessen stellen sie immer häufiger ihre eigenen Ziele und Interessen über die demokratischen Grundsätze und passen dank satter Mehrheiten die Spielregeln im parlamentarischen Entscheidungsprozess dem an, was dem eigenen Vorteil dient.

Gefährlicher Opportunismus

Die zunehmende opportunistische Haltung der bürgerlichen Mehrheit gegenüber staatspolitischen Prinzipien ist gefährlich. Sie führt zu Beschlüssen mit zweifelhafter Legitimität, verzerrt die Gesetzgebung, entwertet unser verfassungsrechtliches Fundament und beschädigt das Vertrauen der Bevölkerung in den politischen Prozess und in das Funktionieren der demokratischen Institutionen.

Gesetzgeber und Richter

Dies wiegt umso schwerer, als die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt. Dem Bundesgericht ist es verwehrt, Bundesgesetze zu überprüfen. Oberster Verfassungshüter ist zwar nicht formal, aber faktisch das Parlament selbst. Es ist Gesetzgeber und Richter zugleich und in der Lage, nicht verfassungskonforme Bundesgesetze zu erlassen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Damit tragen die Mitglieder von Stände- und Nationalrat grosse Verantwortung und müssten in Bezug auf Verfassungstreue und demokratische Gesinnung umso mehr ein Vorbild sein. Viele sind das aber nicht!

Neoliberal und rechts

Dass diese Grundhaltung vielen bürgerlichen Volksvertreterinnen und -vertretern abhandengekommen ist, dürfte zur Hauptsache der politischen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte geschuldet sein. Geprägt ist diese von zwei tiefgreifenden Strömungen: erstens eine prononcierte neoliberale Wirtschafts-, Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik und zweitens eine Radikalisierung im rechten Parteienspektrum mit Sogwirkung auf die bürgerlichen Parteien. Beides hat das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Verfassungstreue und demokratischer Gesinnung geschwächt.
Zunächst zum Neoliberalismus: Er hat zu einer Entfesselung wirtschaftlicher Macht geführt mit der Folge, dass der demokratische Staat zur Magd von Konzernen und Branchen geworden ist und sich der Lobbyismus bis in die feinsten Verästelungen von Politik und Verwaltung ausgebreitet hat. Es geht immer weniger darum, Demokratie als Mittel zur Herstellung von Gemeinwohl und Gerechtigkeit zu begreifen, sondern vielmehr darum, sie zu umgehen und zu verbiegen, um wirtschaftliche Partikularinteressen besser durchzusetzen. Sodann zur Radikalisierung im rechten politischen Spektrum: Sie hat die Menschen anfällig gemacht für eine autoritäre „Herr-im-Haus“-Mentalität. Die Bedeutung für Werte wie Menschenrechte und Gleichheitsprinzip sowie der Respekt für staatspolitische Grundsätze schwindet. Demokratie und Verfassung werden in diesen Kreisen nur angerufen, wenn sie der eigenen Ideologie dienen und als Mittel zum Zweck eingesetzt werden können. Denn auch hier zählt nur, sich durchzusetzen – mit oder gegen Demokratie und Verfassung.

Düstere Aussichten

Demokratie je nach Ideologie, Partikularinteressen und Machtkalkül von Fall zu Fall also? Und das in einer Zeit wie der heutigen, in der es mehr denn je nötig wäre, demokratische Werte und Prinzipien zu verteidigen? Düstere Aussichten.

Walter Langenegger. Weitere Blogs aus seiner Feder: www.wlangenegger.ch/blog

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